Samstag, 23. Mai 2015

Liebe Kritiker des Erzieher- Streiks...

... oder warum ich mich gerade im unbefristeten Vollstreik befinde.


Ich bin eine von den Erziehern/ Erzieherinnen, die gerade "ihre" Kinder im Stich lässt, die auf Kosten der Eltern mehr Anerkennung und Gehalt fordert und die einen absolut egoistischen Arbeitskampf in einem sozialen Bereich mit bestreitet.

Trotz allem, was folgt:

Das ist mein täglicher Job und ich mache ihn gerne- nur ist irgendwo auch mal Schluß!


Ganz kurz ein sehr wichtiger Zeitpunkt in der jüngeren Entwicklung:

Quelle Wikipedia: "Seit 1996 gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) auf einen (halbtägigen) Kindergartenplatz (BVerfG im Urteil zum § 218 StGB, siehe auch § 24 SGB VIII) für Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zur Einschulung."

Ungefähr seit dieser Zeit, also seit nicht einmal 20 Jahren, hat sich die Kinderbetreuung hier dramatisch verändert. Ungefähr in dieser Zeit habe ich auch meine Ausbildung beendet.
Während meines Anerkennungsjahres gab es tatsächlich noch den klassischen Kindergarten von 8.00- 12.00 Uhr und- falls gewünscht, von 14.00- 16.00 Uhr. Das Angebot in "meiner" KiTa war sehr modern und geradezu innovativ: Es gab 25 Hortplätze, 15 Plätze in der "kleinen altersgemischten Gruppe", 20 Kindertagesstättenplätze und 25 Kindergartenplätze, Standort: Innenstadt, Betreuung vom Alter ab 6 Monate bis zur Vollendung der Grundschule.

Der Personalschlüssel war OK (es könnte immer besser sein), gesamt für 85 Kinder, ungefähre Öffnungszeiten von 7.00- 16.30 Uhr:
  • 2 VollzeiterzieherInnen im Hort
  • 2 Vollzeitkräfte in der KiTa- Gruppe, mind. 1 ErzieherIn
  • 2 Vollzeitkräfte in der KiGa- Gruppe, mind. 1 ErzieherIn
  • 3 Vollzeitkräfte in der kleinen altersgemischten Gruppe, mind. 1 ErzieherIn
  • 1 freigestellte Leitung und (unglaublich, aber wahr)
  • 1 zusätzliche pädagogische Fachkraft, beide ebenfalls Vollzeit (Vollzeitstellen konnten sich auch in Teilzeitstellen umrechnen lassen, z. B. 2 Teilzeitkräfte teilen sich eine Vollzeitstelle).

Um 2005 wurde dann die OGS eingeführt, der "offene Ganztag", das, was früher einmal die Horte waren. Nur nicht mehr mit 2 VollzeiterzieherInnen. Auch nicht mehr mit 25 Kindern. Sachstand heute: Auf ca. 80- 100 Kinder im offenen Ganztag kommen 6-7 Teilzeitkräfte (nicht zwingend Erzieher, nicht zwingend pädagogische Ausbildung).

Aus der kleinen altersgemischten Gruppe wurde die U3- Betreuung, aus 15 Kindern im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren wurden 11 Kinder unter drei Jahren, der Personalschlüssel ist vergleichbar.

Die Zahl der Kindergartenplätze (8.00- 12.00 Uhr und evntl. 14.00- 16.00 Uhr) schrumpft weiterhin, die Ganztagsbetreuung nimmt nach wie vor zu.

Seit 1996 kamen zusätzlich zu den veränderten Grundbedingungen folgende Tätigkeiten schleichend nach und nach zum "normalen" Aufgabenfeld hinzu bzw. wurden aufgrund der Bedarfe eingeführt:
  • Gesetzesänderung der Vor- und Nachbereitungszeiten (wurde verallgemeinert, d.h. in der Praxis wurden diese massiv reduziert)
  • Die Vorschulerziehung wurde "leistungsorientierter", Bildung rückte mehr und mehr in den Vordergrund
  • Integration, 
  • Inklusion, 
  • Qualitätsentwicklung, 
  • KiTa als Bildungseinrichtung, 
  • Prävention, 
  • Dokumentation, 
  • Vernetzung... das alles sind Begriffe, die für die ErzieherInnnen mittlerweile zum Alltag gehören. 

Ich selbst habe 2007 in die OGS gewechselt und meine Arbeitszeit unter anderem auch aus gesundheitlichen Gründen freiwillig reduziert. Acht Stunden "reine Arbeit am Kind", einmal pro Woche zwei Stunden Vor- und Nachbereitungszeit? Da hat mir mein gesunder Menschenverstand schon signalisiert, dass das nicht gesund sein kann. Das war meine Konsequenz- und ich verstehe bis heute nicht, wie die Kollegen und Kolleginnen in den KiTas glücklich arbeiten können.  Ich kann von dem Geld leben- aber ich muss überlegen, was ich mir leisten kann und was nicht. Die Einkommenseinbußen aufgrund der Teilzeit sind es mir Wert, nur so mache ich meine Arbeit wirklich gerne!

Ich streike in erster Linie, weil wir nur noch wie ein wirtschaftliches Unternehmen behandelt werden, weil die Erziehung der Kinder immer mehr aus dem Elternhaus in unsere Verantwortung gelegt wird und weil es Menschen gibt, die tatsächlich feststellen, dass diese Anforderungen gar nicht so erfüllt werden können. Wir arbeiten mit Kindern, die ebenso dem Lärm und der Reizüberflutung ausgesetzt sind, wie wir. Und die Kinder kommen von einem lauten, leistungsorientiertem System ins nächste, U3- KiTa- Schule- Ausbildung/ Studium- Job (wenn alles "gut" geht). Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zeigt heute die ersten Symptome einer Gesellschaft, die die Ganztagsbetreuung nicht zugunsten unserer Kinder löst. "Burn out", sprich eine Form der Depression, betrifft nicht nur Erzieher! Es betrifft mehr und mehr Kinder und Jugendliche, die sich in den Systemen nicht mehr zurecht finden, die überfordert sind durch Leistungsdruck.

Inklusion heißt: "Alle gemeinsam, die Struktur passt sich den individuellen Bedürfnissen an" (siehe auch bei wikipedia: "Inklusive Pädagogik")
Super Ansatz- wirklich und ganz ohne Ironie. Leider dient dieser Ansatz zur Zeit eher einer Sparpolitik, die dazu führt, dass ein echtes inklusives Arbeiten gar nicht möglich ist.

Aber ich bin immer gut gelaunt, habe für jeden ein freundliches Wort, bin professionell, aber auch lustig, stehe hinter einer erzwungenen Inklusion, die mit aktueller Gesetzgebung im absoluten Widerspruch steht, lehre Sprache, emotionale und soziale Kompetenz, spiele, singe, koche, arbeite einrichtungsübergreifend mit dem Jugendamt, mit Psychologen, muss Streit zwischen Kindern UND Erwachsenen schlichten und vergebe sogar unter gewissen Umständen pünktlich die ADHS- Pille... am Besten noch ne Schleife beibringen und den Schulweg üben- sorry, aber die Verschiebung des Elternhauses in öffentliche Einrichtungen unter den gleichen und teilweise auch schlechteren Voraussetzungen wie vor 20 Jahren kann nur scheitern. 


Und für alle die sagen "Augen auf bei der Berufswahl": 


Dann gäbe es vermutlich 80% weniger Personal in allen sozialen Bereichen. Mal drüber nachdenken... 

 

Liebe Kritiker des Erzieher- Streikes: Welche Alternativen haben wir denn, ohne das Streikrecht zu nutzen? 

  • Soll sich das Lohnniveau und die personelle Ausstattung einer Einrichtung von Menschen für Menschen immer am niedrigsten Einkommen orientieren? 
  • Ist das die Wertschätzung, die Sie Ihren Kindern und unserer Zukunft entgegen bringen?
  • Ist das gleichzeitig die Wertschätzung, die Sie im Alter erfahren möchten, wenn Sie auf einer Pflegestation leben müssen?
  • Oder Sie erleiden durch einen Unfall eine Behinderung und sind auf Pflege angewiesen: Möchten Sie dann versorgt werden, oder möchten Sie, dass sich um Sie gekümmert wird?
  • Warum muss man sich in diesem Land immer rechtfertigen, wenn man in seinem gelernten Beruf mehr verdient, als einem bei Hartz 4 zusteht?

 

Ich streike nicht nur für mehr Geld, ich streike auch für einen sozialeren, menschlicheren Umgang für alle Menschen mit einer echten Wertschätzung, wie im kleinen so im großen! 


Weiterführende externe Links:
Grundlagenerlass Gebundene und offene Ganztagsschulen sowie außerunterrichtliche Ganztags- und Betreuungsangebote in Primarbereich und Sekundarstufe (pdf)
Link zum Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW: KiBiz (Kinderbildungsgesetz)

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