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Die Fußgängerzone in Witten bei Nacht |
Ich
bin nicht eins mit allem, was in dieser Stadt geschieht. Eine
Fehlplanung hier, eine Baustelle dort. Leerstände, das Sterben der
Innenstadt.
Veränderungen, die so schnell geschehen und dann doch irgendwie fast unmerklich in unseren Alltag einfließen.
Ich
blicke auf die Menschen, die durch die Straßen hetzen, jeder sagt, die
Menschen sind weniger geworden. Ich höre Stimmen, die sich beschweren.
Die sagen, man könne in dieser Stadt "nichts machen". Was ist damit
gemeint? "Nichts machen"? Das verstehe ich nicht. Es fehle hier an allem
höre ich dann. An was denn? Die Worte schwirren wie Comicsterne über
mir. "Keine vernünftigen Kneipen", "kein schöner Markt", "der Ruhrpark
ist besser", "Bochum ist toll, die machen viel mehr", "scheiß Kirmes,
nur Assis", "überall Baustellen", "die reißen die drei Teiche ab",
"kahler Rathausplatz", "die Stadt muss sich mal was einfallen lassen",
"Überall ists besser als in Witten".
Dann schaue ich
mich um, verharre dabei wie in einem Zeitraffer- um mich herum rast
alles an mir vorbei und ich halte einfach inne und komme wieder zu mir.
Witten- wem es hier nicht gefällt, der kann- der soll doch gehen.
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Altbau im Wiesenviertel, kaleidoskopische Ansicht |
Ich
bin hier aufgewachsen, erst in Heven, jetzt am Rand der Innenstadt. Das
ist meine Heimat. Und dann fahren meine Gedanken durch die schönen
Ecken der Stadt und ich beginne zu lächeln. Vielleicht ein wenig
überheblich? Kann sein, ist mir egal! Ich weiß, wo es hier schön ist, es
ist mein Lebensraum in dem mich keiner gefangen hält. Ich entscheide wo
ich lebe, nur ich allein und es gefällt mir hier.
Ich
erinnere mich an Schlamm- und Kiesberge an der Ruhr, Kieselspringen auf
dem Wasser und das unfassbare Projekt, den Kemnader See auszuheben.
Naturerlebnisse rund um den See und Wanderungen durch das Ölbachtal bis in den Stämmisch Busch.
Winteridylle auf dem Ruhrdeich, mit gelbstichigen Lampen in denen dicke Flocken tanzten- ein eingebranntes Bild in meinem Kopf.
Der
Helenturm- früher fast immer zugänglich. Der Blick vom Turm auf die
Stadt, auf das Rathaus. Was kostet die Welt? Ich nehme die Hälfte!
Ich
kenne hier einige Winkel wie meine Westentasche. Und so vieles kenne
ich noch nicht, ein Tag ohne Entdeckungen ist ein verlorener Tag.
Das
innere Kind erwecken- so muss das! Als Kind haben wir die Fähigkeit in
allem Bekannten auch etwas Neues zu finden. Der Spielplatz, auf dem wir
jeden Tag die unfassbarsten Erlebnisse hatten- der Spielplatz war doch
eigentlich immer gleich, oder? Warum muss immer alles neu sein? Haben
wir uns so sehr daran gewöhnt von anderen bespaßt zu werden? Nein, ich
meine nicht im Alten zu verharren. Ich mag Innovationen und bin
begeisterungsfähig. Und dann kann ich eintauchen in das Neue, tiefer und
tiefer, auch wenn das Leben zu kurz scheint um alles zu begreifen. Und
ich beobachte wie viele Menschen um mich herum vorgeben für so etwas gar
keine Zeit zu haben. Vorgeben? Ja- vielleicht, weil sie es verlernt
haben- das innere Kind weit in sich vergraben, zurückgezogen im
Kaninchenbau, traurig und einsam. Und der Verlust des Kindes wird
kompensiert durch eine Spritze, gefüllt mit einer Droge, die "Neuer,
Schneller, Weiter, Besser, Höher, Mehr" fordert.
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Infrarotansicht auf die Herbeder Ruhrbrücke |
Und
dann bin ich plötzlich in einem Garten, in meinem Garten- knapp 400 qm,
die ich bewirtschafte. Ein Garten, so richtig Schrebermäßig. Mit Wiese,
Anbaufläche und Tümpel. Hier läuft die Zeit noch richtig, geerdet,
elementar und reduziert... "geerdet und elementar". Der Blick auf das
Wesentliche. Auf Knospen folgen Blüten, der Pflanze ist egal, was um sie
herum geschieht- sie wächst immer so gut sie kann. Pflanzen lehren mich
geduldig zu sein, anzunehmen, was kommt.
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Junges Gras |
Mal ist es ein junger Trieb,
dann eine Eidechse, die meinen Weg kreuzt. Ein Igel, ein ausgeraubtes
Nest- Freud und Leid nah beieinander, doch immer geht es weiter und die
schönen Momente überwiegen. Und je tiefer ich eintauche in meinen
Mikrokosmos, je mehr sauge ich auf- Insekten, die ich nie zuvor gesehen
habe, Pflanzen mit wunderbaren Kräften und Früchte, die sich aus einem
winzigen Samenkorn entwickelt haben, die wachsen und wieder vergehen
oder bleiben und die Jahrzehnte überdauern. 400 qm, immer gleich und
doch immer wieder anders, manchmal von Tag zu Tag, manchmal nur von
Woche zu Woche...
Und im Winter wird geruht...
Zwei
wichtige Aussagen haben mich geprägt, zwei Sätze, die ich in mir trage.
Der eine kam von meiner Tante, die in diesem Jahr 80 Jahre alt wurde
auf die Frage, ob früher alles anstrengender war. Die Antwort lies mich
nicht mehr los... "Nein, früher gab es zwar anstrengendere Arbeiten als
heute, aber wir hatten mehr Zeit, alles ging langsamer, bewußter und mit
mehr Spaß". Und dann war da noch die Antwort von Andreas, meinem
Dozenten am Kunstinstitut, auf meine Aussage, ich könne mit dieser oder
jener Tätigkeit ja eine Menge Zeit sparen. Er erwiderte nur sehr
trocken, ernsthaft und wahrheitsgemäß: "Zeit kann man nicht sparen".
Diese Sätze lassen mich die Zeit, das Leben und auch die Veränderungen mit anderen Augen sehen...
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Ameisen "am Tropf" |
Wir
wissen alle, dass es oft die kleinen Dinge und Momente sind, die uns
glücklich machen und die wir uns bewahren sollten- warum tun wir es nur
so selten?
Und dann blicke ich wieder auf die
vorebirasenden Menschen mit einem Lächeln im Gesicht, ganz bei mir und
in meinem Raum, meiner Stadt in der ich lebe und bin glücklich.
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"Frozen Blossoms" |
Zum Hintergrund:
Über drei Veranstaltungsabende, jeweils am 2. Samstag im Monat, hingen
meine Werke in Benno`s Brauhaus in der Hammerstr. in Witten.
Bei
den Sagentagen handelt es sich um eine Veranstaltungsreihe, die 1x/
Monat einlädt, um dort 3 verschiedene Ausstellungen an drei
unterschiedlichen Orten die fußläufig erreichbar sind, zu besuchen. Die
Midissagen locken zudem mit einer
Poetry- Lesebühne, die Finissagen mit
Musik,
somit ist die Veranstaltung bunt und vielfältig. Neben 2 wunderbaren
Poetry- Slammerinnen hatte ich die Gelegenheit während meiner Midissage
einen Text zu verlesen, der sowohl meinen Bildern als auch der Stadt in
der ich lebe gewidmet ist. Für eine Lesung zu schade um danach in der
Versenkung zu verschwinden... also veröffentliche ich ihn hier,
vielleicht findet der Ein oder Andere ja Gefallen daran und/ oder
entdeckt sich ein Stück weit wieder- nicht nur als Wittener.